Rechtsphilosophie der Gegenwart

Vom Naturrecht zum Gesetzesrecht

Die moderne „Evolution des Rechts“ bis hin zum heutigen Verständnis von Recht als Verfahren führt zur zunehmenden Verrechtlichung aller Lebensbereiche, zu einer Machbarkeit des Rechts, in welcher das vom Menschen autonom Gesetzte in allen Bereichen als Ordnungsfaktor angesetzt wird und schließlich absolut – d. h. losgelöst von allem – alles, was ist, umfängt.[1] Recht braucht Gesetze. Bringen aber mehr Gesetze mehr Recht? Stets ist das Gemeinwohl zu bedenken, der gesamte Zusammenhang, in dem Recht und Gesetz immer stehen.[2] Die Grenzen von Verrechtlichung und Rechtspositivismus zeigen sich in der Frage nach der Gerechtigkeit (Platon), dem politischen (Aristoteles), sittlichen (Hegel) oder richtigen Recht (Radbruch).[3] Wenn wir vom freiheitlichen Recht weitergehen wollen zum sozialen und politischen Menschenrecht, dann müssen wir die bisherige Rechtsentwicklung prinzipiell in Frage stellen.[4] Dazu gehört einerseits der Ausbau der Vertragsfreiheit, andererseits die Erklärung von Menschenrechten.

Vertragsrecht

Im Zuge des Liberalismus wird der Vertrag zu dem Mittel und Verfahren, in dem sich Freiheit als Autonomie ereignet und gestaltet. Privatrecht bezieht sich wesentlich auf Privatautonomie und diese besteht in der Vertragsfreiheit. Im Vertrag ist somit ein Angelpunkt für alle weiteren Freiheiten und damit für das Recht überhaupt zu sehen.[5] Der Vertrag aber beruht auf einem Welt- und Menschenverhältnis zum Eigentum und dient wesentlich dazu, den Besitz wie nie zuvor zu steigern und zu sichern.[6] Er entspricht einem Denken und Handeln, das dem Mehr-haben-wollen verschrieben ist.[7]

Sinn und Zweck der neuzeitlichen Gesellschaftsverträge besteht in der Gewährung und Sicherung der Vertragsfreiheit, d. h. aber den Menschen umfassend als Besitzer zu definieren.[8] Der neuzeitliche Staat wiederum beruht auf einem Vertrag nach dem Modell eines bürgerlichen Privat- und d. h. Wirtschaftsvertrages.[9] Der Staat, die Gesellschaft wird zu einer Angelegenheit des Privatrechts, der Privatautonomie, des Vertrages.[10]

Die Bewegung des Kapitals, d. h. der Kapitalismus, ist ohne den freien Vertrag nicht machbar.[11] Der Wille sucht den Vertrag, um darin aufzugehen. Er bleibt ständig in Bewegung und deshalb auch in der ständigen Ausarbeitung von Verträgen. So manifestiert sich die Kultur des Kapitalismus als Beweglichkeit schlechthin in der ständigen Revision und Reproduktion von Verträgen.[12] Dabei bleiben aber Vertragsgerechtigkeit, –sicherheit und letztlich -freiheit für den sogenannten Privatmann auf der Strecke. Wir können im Vertrag viel, aber nicht alles – haben jedenfalls nicht das Gesetz in der Hand. Verträge gelten nur kraft des Menschen im Bezug zum Menschen, zur Verfassung, zum Sittengesetz.[13]

Die größte Gefahr für das Privatrecht liegt mithin nicht im Ausbau von Verfassungsrecht, sondern im Privatrecht selbst. Gefährden wir uns als Privatperson und damit den Kern des Privatrechtes nicht gerade deshalb, weil wir kraft der Privatautonomie Wirtschaft und Technik zu Massenmedien entwickelt haben?[14] Mit den neuzeitlichen Mitteln des Privatrechts haben wir eine nie dagewesene Freiheit erreicht, andererseits aber Freiheit, Leben und Eigentum zerstört.[15] Grundrechte müssen deshalb nicht nur vor dem Staat, sondern auch vor der Wirtschaft, der Technik, den Medien und ihrem System der Deshumanisierung schützen.[16] Wie kann der Rechtsstaat hier seine Schutzfunktion ausüben?[17]

Die Freiheit des Vertrages besteht darin zu bestimmen, was und wie etwas ist. Im Vertrag scheint alles regelbar. Das Vertrauen auf diese Machbarkeit des Vertrages ist unermeßlich. Dabei wird vergessen, daß im Vertrag jeder seinen Vorteil sucht, seine Interessen durchsetzen, mehr haben will als der andere.[18] In solchem Vertragshandel geht es weniger um Anerkennung des anderen (als Person) als um Aberkennung.[19] Durch die Machbarkeit der Freiheit des Vertragsrechts, kann im Vertrag etwas rechtens gemacht werden, was der Rechtsstaat seinen Mitgliedern nicht zumutet.[20] Jedenfalls gehören zum Vertag List und Lüge, Übervorteilung, ein Geschäftssinn, der nicht von Wohlwollen, Gleichheit oder Solidarität getragen ist.[21] Angesichts der Größe, aber auch des Verhängnisses der Vertragsfreiheit ist heute die Frage nach der sozialen, politischen und ökologischen Gerechtigkeit zu stellen.[22]

Menschenrecht

Die klassische Philosophie läßt in ihrer Rede vom politikon dikaion als physei dikaion das Recht über den Menschen hinausgehen.[23] Im Menschenrecht dagegen erhebt der Mensch einen spezifischen Anspruch: in allem und ganz Mensch zu sein.[24] Wille, Freiheit, Vernunft des Menschen scheinen erst im und durch das Recht möglich. Der Mensch erweist sich als ein Lebewesen, das Recht braucht, sucht und macht, ja Recht ist die vielleicht wichtigste Domäne von Machbarkeit. Verrechtlichung als Steigerung der Regelbarkeit ist somit nicht nur Herstellung des Rechts durch den Menschen, sondern auch Herstellung des Menschen durch das Recht.[25]

Im neuzeitlichen Anlauf zu Menschenrechten steckt der große Anspruch, den Menschen als Menschen heraus- bzw. herzustellen. Doch mit der Verrechtlichung kommen wir nicht zu einem gerechteren Leben. Im Gegenteil. Wir stürzen in Unrecht.[26] Recht als Verfahren zeigt sich als ein Bumerang, der allem Recht, ja besonders der Gerechtigkeit entgegenschlägt.[27] So lautet die heute kaum aussprechbare Frage: Was ist menschengerecht?[28]

Worin besteht die größte Freiheit? Es ist die Freiheit, die jeder für sich selbst haben und mit dem Menschenrecht durchsetzen kann: die Freiheit des Privaten, des Konsums, des Besitzes. Die damit verbundene umfassende Mobilmachung führt dazu, daß Freiheit sich abbaut, daß die Freiheit den Menschen nicht größer, sondern kleiner macht.[29] Wir sind zu billigen Menschen geworden.[30] Globalisierend brechen wir in andere Kulturen und beseitigen deren jeweiligen Aufenthalt (êthos).[31] Privatrechte sind Beraubungsrechte, Feindschaftsrechte geworden. Der Mensch ist zum Feind geworden in einer Gesellschaft des Verbrechens.[32]

Was ist der Mensch? Er fragt „was ist?“, stellt die Frage nach dem Seienden und radikalisiert sie in sich. So zeigt er sich als das Seiende als solches und im ganzen: Der Mensch umspannt alles, ist das, was ist. Also sind Menschen auch Ungeheuer.[33]

Im Menschen als Ungeheuer, in Menschen, die das Menschliche vernichten, erscheint der umfassende Nihilismus des Menschen bzw. der Mensch des Nihilismus: der Unmensch.[34] Dies zeigt sich nicht nur in Figuren wie Hitler und Stalin oder heutigen Terroristen, sondern besonders im „Ungeheuer der Beweglichkeit“, die alles und jeden überall antastet.[35] Als Selbstzweck oder unbewegter Beweger ist der Mensch ein Ungeheuer im ganzen.[36] Unter der Herrschaft von Demokratie und Wissenschaft bzw. Geld und Meinung, in der globalisierenden Mediengesellschaft erfahren wir die umfassende Vernichtung von Aufenthalt, die wir selbst so herausfordern[37].

Sitte kommt von Sitz, Verhalten von Aufenthalt. Wo ist unser Aufenthalt?[38] In der Philosophie werden die Orte genannt, der Aufenthalt, das Sein und Anwesen in physis, psychê, logos und besonders ethos.[39] Ein Aufenthalt auf Erden in menschengerechter Lebendigkeit setzt das gemeinsame Vernehmen bzw. Übereinstimmen im Klima, ein Leben im Zwischen voraus.[40]

 

 


[1] Vgl. 12–15. [2] Vgl. 106 f. [3] Vgl. 30. [4] Vgl. 32. [5] Vgl. 33 f. [6] Vgl. 36 f. [7] Vgl. 47. [8] Vgl. 97. [9] Vgl. 38 f. [10] Vgl. 51. [11] Vgl. 72. [12] Vgl. 74. [13] Vgl. 83 f. [14] Vgl. 54. [15] Vgl. 61. [16] Vgl. 55. [17] Vgl. 60. [18] Vgl. 90 f. [19] Vgl. 94. [20] Vgl. 93. [21] Vgl. 97. [22] Vgl. 79.[23] Vgl. 113. [24] Vgl. 103. [25] Vgl. 109 f. [26] Vgl. 118. [27] Vgl. 115. [28] Vgl. 117. [29] Vgl. 121. [30] Vgl. 154. [31] Vgl. 123. [32] Vgl. 125 bzw. 128. [33] Vgl. 132 f. [34] Vgl. 137. [35] Vgl. 139. [36] Vgl. 145. [37] Vgl. 149 f u. 155 f. [38] Vgl. 152. [39] Vgl. 165. [40] Vgl. 166 f.

 

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Arno Baruzzi